07. September 2023

Alltag im Maßregelvollzug

Reportage: Klinik mit begrenzter Freiheit

Täter therapieren, die nicht schuldfähig sind, und die Gesellschaft vor ihnen schützen – das sind Aufgaben des Maßregelvollzugs. Der Personalmangel bringt das System an Grenzen.

Station 2, Überwachungsraum: Mehrere Monitore, der linke in der oberen Reihe zeigt das Isolierzimmer, gleich nebenan. Ein Mann ist zu sehen, er trägt nur Boxershorts, sein T-Shirt hat er ausgezogen. Er stellt die schwere Matratze auf, zögert kurz, dann lässt er sie mit voller Wucht gegen die verschlossene Tür krachen. Der Schall hallt durch den Flur. Eigentlich gibt es in dem Raum noch einen Sitzwürfel. Aber den haben die Pflegekräfte weggenommen, weil der Mann ihn benutzt hat, um die Kamera an der Decke mit seinen Exkrementen zu beschmieren. Sechs Personen müssen dabei sein, wenn er geduscht wird, der Mann ist gefährlich. Und vor allem ist er psychisch krank, schwer krank. Im Maßregelvollzug im niedersächsischen Moringen bekommt er Hilfe. Station 2 ist die Krisen- und Aufnahmestation.

Patienten statt Häftlinge, Pflegekräfte statt Justizbeamte, Patientenzimmer statt Zellen: Der Maßregelvollzug ist eine Klinik, kein Gefängnis, auch wenn es durchaus Parallelen gibt. Raus darf nämlich niemand. Wer hier untergebracht ist, hat schwere Straftaten begangen, andere Menschen verletzt, in vielen Fällen auch getötet. Aber das eben im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit oder Schuldunfähigkeit. Ob jemand in den Maßregelvollzug kommt, entscheiden Gerichte in sogenannten Sicherungsverfahren, in denen es nicht um ein Strafmaß geht. Nach § 63 Strafgesetzbuch können sie die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anordnen, nach § 64 die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt. Das Ziel: die Gesellschaft vor psychisch kranken Täterinnen und Tätern schützen – aber auch zu therapieren, im Idealfall zu resozialisieren.

Moringen liegt nördlich von Göttingen, von dort aus führen Landstraßen an Kornfeldern vorbei in die Kleinstadt. Bei gutem Wetter lässt sich im Osten der Brocken am Horizont erkennen, der Harz ist nicht weit. Durchs Stadtzentrum bahnt sich die Lange Straße, rechts und links Fachwerkhäuser, einige mit Schieferplatten verkleidet. Über die Gartenstraße geht es zur Klinik, eine meterhohe Hecke umringt das Gelände. Von dem Zaun und Stacheldraht in ihrem Inneren ist nichts zu sehen, so dicht ist das grüne Gestrüpp, das eher unscheinbar daherkommt. Nur das mächtige Eingangstor zeugt davon, dass hier nicht jeder beliebig ein- und ausgehen darf. Hinter der Hecke, hinter dem Tor, befindet sich der Arbeitsplatz von Annette Doehring.

Vertrauen als Therapiegrundlage

Doehring ist seit 2015 im Maßregelvollzug beschäftigt, wo sie auch ihre Ausbildung gemacht hat. Sie trägt dunkle Jeans und eine geblümte, rosafarbene Bluse. Die Alltagskleidung ist ihre Dienstkleidung, wie bei allen Pflegekräften in Moringen. „Wenn die Patienten bei uns ankommen, klatschen sie meistens hart auf, es ist eine schwierige Zeit“, sagt die zierliche Frau, die Selbstbewusstsein, vor allem aber Ruhe und Empathie ausstrahlt. „Viele müssen ins Isolierzimmer, zu unserem Schutz, aber auch zu ihrem eigenen.“ In dieser Zeit versuchen die Pflegekräfte, Vertrauen und eine Beziehung aufzubauen, die Grundlage für jede Therapie. Manchmal dauere es lange, bis die Betroffenen zugänglich sind und auf andere Stationen verlegt werden können, erzählt Doehring, die einige Jahre in der Krisen- und Aufnahmestation für Frauen gearbeitet hat.

Heute leitet Doehring Station 6. Hier sind nur Männer untergebracht, größtenteils mit Intelligenzminderungen. „Unsere Patienten stehen nicht einmal am Rand der Gesellschaft, sie stehen auf der anderen Seite“, sagt die gläubige Christin. „Ich sehe es als meine Aufgabe, sie wieder an die Gesellschaft heranzuführen.“ In ihren Patienten sieht sie nicht nur Täter, sondern auch Opfer. Denn es handelt sich oft um Menschen, um die sich von klein auf niemand gekümmert hat. Viele wurden vernachlässigt, geschlagen, missbraucht, haben schreckliche Dinge erlebt, stets Ablehnung erfahren. Doehring hat unter anderem einen ehemaligen Kindersoldaten betreut, der infolge seiner Traumata selbst zum Täter geworden ist. Was ihre Patienten genau getan haben, das möchte sie nicht im Detail wissen. „Grob weiß ich natürlich Bescheid, weil es für meine Sicherheit wichtig ist. Aber ich möchte mir selbst ein Bild von den Menschen machen.“

Wenn die Lage eskaliert

Und so wirkt der Täter mit den dunklen kurzen Haaren, der den Pflegekräften kaum von der Seite weicht, stets einen Becher mit sich trägt und allen freundlich die Hand reicht, auf Außenstehende recht harmlos. Gleiches gilt für den älteren Herrn, der auf einen Rollator gestützt durch die Gänge schleicht und vor sich hin brabbelt. Wenig bedrohlich auch der Patient, der gerade vom Raucherbalkon kommt und schüchtern erzählt, dass er seit 2011 im Maßregelvollzug sei.

Doch es gibt auch Situationen, in denen die Lage eskaliert. Neulich stand ein Patient Nase an Nase mit einem Mitarbeiter. „Ich habe gesagt, dass ich jetzt den Knopf drücke“, erzählt Doehring. Alle Pflegekräfte tragen ein Telefon bei sich, mit dem sie Alarm auslösen können. Unter bestimmten Voraussetzungen kann das Gerät den Alarm auch selbst auslösen – eine Sicherheitsvorkehrung, für den Fall, dass Mitarbeitende nicht mehr rechtzeitig reagieren können. Solche Situationen kommen vor, manche Kolleginnen und Kollegen haben schon blaue Augen und aufgeplatzte Lippen davongetragen. Der Stationsleiterin ist bislang nichts passiert.

Doehring drückt den Knopf. Aus den anderen Stationen eilen Kolleginnen und Kollegen herbei, sie sehen, wie der Patient drohend die Arme hochreißt, prompt bringen sie ihn zu Boden, legen ihm Handschellen an, bringen ihn in das Isolierzimmer. Die Lage ist wieder unter Kontrolle. Später sucht Doehring den Kontakt. Sie öffnet die Klappe in der Tür und fragt: „Darf ich reinkommen? Können Sie mir garantieren, dass mir nichts passiert?“ Der Patient bejaht, die Stationsleiterin wiederholt ihre Frage, wieder bejaht der Patient. Doehring öffnet die Tür, der Patient fängt an zu weinen. Das hat er seit Jahren nicht mehr. Später entschuldigt er sich bei dem Pfleger, mit dem er Nase an Nase stand.

Lebenswertes Umfeld statt Betonwüste

Manchmal sind bewusste Eskalationen auch Teil der Therapie. Sie bringen den Patienten weiter, wenn er lernt, nicht auf das Faustrecht zu beharren und seine Frustrationstoleranz ausbaut. „Der Maßregelvollzug ist ein Mikrokosmos, eine Probebühne für das Leben da draußen“, erklärt Dirk Hesse, der Ärztliche Direktor der Klinik. Diese Probebühne müsse in einem ansprechenden Umfeld stehen. Denn: „Eine Therapie im Tigerkäfig funktioniert nicht. Und abgesehen davon will niemand von uns in einer Betonwüste therapieren.“

Dieses Credo verkörpert das gesamte Klinikgelände: Wiesen mit Gänseblümchen, ein Teich mit einer geschwungenen Brücke, es gibt einen Spielplatz, den Patienten mit ihren Kindern an den Besuchstagen nutzen können. Auch der Innenhof des Hochsicherheitsbereichs lädt zum Verweilen ein: Überall gibt es Sitzecken, teils unter mächtigen Bäumen, die bei warmem Wetter Schatten spenden, an den Stämmen Vogelhäuschen. Dezent mahnen das verschlossene Tor und die einzigen sichtbaren Zäune, welche die Krisenstation 16 abschirmen, dass die Freiheit Grenzen hat. Und wenn man so will, auch das massive Panzerglas vor den Fenstern – das durchsichtige Gitter. In den vergangenen zehn Jahren ist es zwei Patienten gelungen, die Sicherheitsvorkehrungen zu überwinden, die Klinik spricht von sogenannten „Entweichungen“. Der jüngste Fall ist gar nicht lange her, er hat sich im vergangenen Juni ereignet. Wie dem 33-Jährigen Mann, der in Zusammenhang mit einer gefährlichen Körperverletzung eingewiesen wurde, die Flucht gelingen konnte, ist zum aktuellen Zeitpunkt unklar.

Im Maßregelvollzug Moringen verbringen die Menschen, die wegen einer psychischen Erkrankung eingewiesen sind, im Durchschnitt rund neuneinhalb Jahre. „Persönlichkeitsstörungen sind in der Behandlung sehr langwierig, das kann auch deutlich länger dauern“, berichtet Hesse. Bei Schizophrenien hingegen sei es möglich, mit Medikamenten schnelle Fortschritte zu erzielen. Die Patienten könnten nach drei bis vier Jahren wieder draußen sein, auch nach einem Tötungsdelikt. Wieder draußen sein – das bedeutet keineswegs, dass die Betroffenen unbeaufsichtigt sind. Viele leben in betreuten Wohngemeinschaften. Ambulanzen stehen mit ihnen in engem Austausch, meistens noch fünf Jahre nach der Entlassung. „Es gibt auch Menschen, die wir niemals entlassen, weil von ihnen Gefahr ausgeht“, betont der Ärztliche Direktor. „Zehn Prozent aller Patienten sterben im Maßregelvollzug.“

Zurück auf Station 6: Menschen auf ihrem Weg zurück in die Gesellschaft begleiten, das ist es, was Annette Doehring antreibt. „Das Schönste ist, wenn wir Fortschritte sehen“, sagt die Stationsleiterin. Gerade hat sie ein Gespräch mit einem Patienten geführt, der lange als einer der gefährlichsten im Haus galt. Inzwischen hat er die Krisenstation verlassen. „Frau Doehring, es ist gut, dass Sie hier sind“, habe er gesagt. Ihre Antwort: „Ich finde es auch gut, dass Sie jetzt bei mir auf der Station sind. Sonst hätten wir uns gar nicht kennengelernt.“

Manchmal rufen auch ehemalige Patienten und Patientinnen auf der Station an. Sie sagen, dass es ihnen gut geht, erzählen von ihrem Alltag, bedanken sich. Unter ihnen auch eine Frau, die sich regelmäßig meldet und heute ein geregeltes Leben jenseits der meterhohen Hecke führt. Doehring kann sich noch gut an ihre ersten Wochen in der Klinik erinnern. Der Umgang war sehr schwierig, sie musste viele Stunden im Isolierzimmer verbringen. Wie der Mann, der gerade auf Station 2 immer wieder die Matratze gegen die Tür krachen lässt. (cdi)

Quelle: www.dbb.de

Tacheles Nr. 9 September 2023 zum Download

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